Scham: Hüterin der eigenen Würde
29. November 2023
Eine junge Frau führt ein angespanntes Pferd in der Reithalle. Die Frau hat Mühe sich selbst zu entspannen. Ihre Angst, dass das Pferd ihr gleich in ihren Körper springt, weil es sich erschrickt lässt die Frau Angst um ihr physisches Wohl haben.
Dazu kommt die Zartbitter fühlende Scham in ihr hoch.
Es werfen sich Fragen und Sätze in der Frau auf. „Was denken die anderen über mich, dass ich so ein ‚verrücktes‘ Pferd habe?“, „Die denken bestimmt ich bin zu inkompetent es zu händeln“, „wenn ich den jetzt nicht halten kann, gräbt der den Hallenboden um und ich bekomme Anschiss, weil ich versagt habe indem ich ihn nicht halten konnte.“
Die Scham. Jeder kennt sie und doch ist sie eine so stille Begleiterin im Zusammenleben mit Pferden. Sie kann sich grausam anfühlen und jeder hat sich mit Sicherheit in so mancher Situation schoneinmal das so genannte „auftuende Erdloch“ gewünscht.
In den meisten symbiotischen Beziehungen ist die Identifikation mit dem eigenen Pferd so groß, dass die Scham sich über das Machtverhältniss ausdrückt. Das heisst in dem Moment, wo das Pferd seinen Menschen durch sein unkontrollierbares, körperliches Verhalten (mich oder andere umrennen, nach mir treten, beißen, durchdrehen, unhaltbar sein) entmächtigt, kann es etwas mit dem Menschen machen, ohne das der Mensch die gleichen Möglichkeiten hat. Entmächtigung kann zu traumatischer Scham führen und andersrum kann das Pferd gleichzeitig mit seinem Verhaltensausdruck diese bereits erlebte, traumatische Scham (die der Mensch frühkindlich erlebt hat) zum Ausdruck bringen.
Scham ist eigentlich eine Schutzfunktion bzw. ein Warnsignal, was eigene und fremde Grenzen schützt. Haben Menschen ein Pferd an ihrer Seite, was sie ständig mit dessen Verhalten überfordert und sie über ihre Grenzen hinaus bringt, sowie die Grenzen anderer einrennt (Hallenboden umpflügen, durch Zäune geht), ist die Beschämung allgegenwärtig.
Die Scham betrifft den Menschen an der Wurzel des so Seins und das kann zu inneren Konflikten führen. Diese Konflikte lassen Fragen aufwerfen wie „Bin ich nicht gut genug für dieses Pferd?“
Die Definition nach Léon Wurmser bringt es noch passender auf den Punkt. So entsteht Scham „…aus einem Zuviel des eigenen Wollens im Angesicht des stummen ‚Nein’s‘ der Anderen.“
Die Frau in der Reithalle mit ihrem nervösen/ängstlichen Pferd riskiert die Entmächtigung ihrer Selbst preis zu geben und entblößt sich dabei vor ablehnenden Blicken der anderen Menschen. Sei es einem wirklichen (wie dem Reithallenbesitzer wegen des Hallenbodens und des eigentlichen Freilaufverbotes) oder einem gefühlten Blick (im Nacken von der Hallenbande, wo vllt. gar keiner sitzt).
So kann das Pferd dem Menschen ein „Scham-Gefängnis bauen“ (oder es auf ein bereits bestehendes aufmerksam machen). So kann sich der Mensch durch das Verhalten des Pferdes, schon in den kleinsten Bereichen gekränkt fühlen und auf Alarm schalten.
Besteht die Möglichkeit, sich der Scham bewusst zu werden, können eigene und fremde Grenzen besser wahrgenommen werden und anschließend eingehalten werden. Vielleicht sind es dann die 10m- Ausflug vor das Weidegatter in einem friedvollen Miteinander, in präsenter Sicherheit und dem Gefühl der Verbundenheit anstatt der unkontrollierbaren Kontrolle.
Ist dir die Scham im Zusammenleben mit deinem Pferd schonmal begegnet?
Was Scham mit uns „Macht“. Sie kann unser Verhalten maßgeblich beeinflussen. Die Scham lässt uns teilweise willkürlich reagieren um unsere Würde zu retten. Um unsere Verletzlichkeit nicht zu entblößen und um damit nicht das Gefühl zu haben, handlungsunfähig im dahingleitenden Gefühl des Kontrollverlustes zu sein.
Wir sind in solchen Momenten nicht mehr im Kontakt. Weder mit uns, noch mit unserem Pferd. Um Scham also nicht mehr erleben zu müssen, bauen wir uns Konstrukte, die die Pferde „kontrollierbar machen“. Wir drehen also, den im Teil 1 erwähnten Spieß, einfach um und ‚machen‘ etwas mit dem Pferd, bei dem das Pferd nicht mehr die gleichen Möglichkeiten hat, wie wir. Wir entmächtigten es mit Methoden und Techniken der Konditionieung (positiv „Clickern“ und negativ „Horsemanship“).
Das gibt uns das Gefühl, die Kontrolle zu haben; über das Pferd und somit eigentlich im indirekten Sinne über unsere Scham. Wir werden also glaubhaft nie wieder in eine so beschämende Situation von unseren Pferd gebracht.
Ganz ehrlich: damit habe ich mich jahrelang selbstbelogen. Das ist Selbstbetrug und keine Lösung, die auf echter friedvoller und ganzheitlicher Kommunikation basiert. Die würde nämlich bedeuten, dass einzig und alleine der Kontakt zur eigenen Scham(geschichte) und ihrer angehefteten, inneren Konflikte der Weg in eine Pferd-Mensch-Partnerschaft auf Augenhöhe wäre. Wenn sichergestellt ist, dass Pferde unsere Herzkohärenz lesen, ist jede Technik und jede Methode, eine Ambivalenz, die zwischen mir und dem Pferd steht. Eine Seelenblindheit, die den Menschen zu einem funktionierenden, aber resonanzlosen Gegenüber werden lässt.
Also, nehmen wir an, worauf die Pferde uns hinweisen. Dann ist so viel mehr möglich. Und zum Schluss kann keine Theorie dem Menschen sagen, was die eigene Wahrheit ist.
Scham hat eben viele Masken, nimm sie wenigstens bei deinem Pferd ab. Es durchschaut sie sowieso✨🐎🙏🐎✨.